Der Hebammenmangel macht sich in ganz Deutschland bemerkbar. Betroffen ist insbesondere der ländliche Raum. Mehr Geburten, aber weniger Hebammen: Eine Situation die zu besonderen Herausforderungen bei den Geburtshelferinnen sowie den Frauen und Familien führt. Digitale Angebote können bei der Bewältigung dieser Herausforderungen helfen. Sie können als Ergänzung zur vor-Ort Versorgung sowohl Hebammen als auch den betreuten Frauen und Familien mehr Flexibilität und Unabhängigkeit geben.
Das Projekt „Hebammen IT-Campus (HeITCa)“ der Volkshochschule Hildesheim gGmbH unterstützt werdende Hebammen dabei, sich den Herausforderungen der Digitalisierung zu stellen und ihre Arbeit dem digitalen Zeitalter anzupassen.
Mit Dr. Margitta Rudolph (Geschäftsführerin der VHS Hildesheim) und Karen Thiele (Kaufmännische Leitung des St. Bernward Krankenhaus Hildesheim) sprechen wir über die Digitalisierungsprozesse rund um die Geburtshilfe und wie das Projekt angehende Hebammen dabei unterstützt, ihr Berufsbild dem digitalen Zeitalter anzupassen.
Das Projekt wird durch die NBank im Rahmen des ESF-Programms „Innovative Bildungsprojekte der beruflichen Erstausbildung" gefördert.
Frau Dr. Rudolph und Frau Thiele: HeITCa wird mit Mitteln der Europäischen Union im Rahmen des ESF-Programms „Innovative Bildungsprojekte der beruflichen Erstausbildung" gefördert. Worin liegt der besondere innovative Aspekt Ihres Ansatzes?
Thiele: Es erfolgt erstmalig eine Verknüpfung von praktischer Hebammenarbeit mit digitalen Angeboten im festen Kontext der Hebammenausbildung. Bisher gab es vereinzelt Weiterbildungsangebote, um digitale Kompetenzen zu erlangen. Diese wurden aber sehr selten von und mit Hebammen geleitet und ein wirklicher Bedarf war vielen Hebammen auch nicht ersichtlich. Diese Fortbildungen müssen zusätzlich zur Ausbildung oder den beruflichen Pflichten absolviert werden. Diesen Mehraufwand konnten bisher nur wenige Hebammen leisten.
Dr. Rudolph: Die Verbindung von wissenschaftlich fundierter, evidenzbasierter Arbeit mit digitalen Möglichkeiten (z.B. Blog, Videosprechstunde, Blended-Learning-Kurs) zur allumfassenden Beratung und Betreuung von Schwangeren und jungen Familien macht den Kern dieses Projektes aus.
Thiele: Die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft hat einen tiefgreifenden technischen, sozialen und kulturellen Transformationsprozess eingeleitet, der sich mittlerweile auch immer stärker in das Gesundheitssystem drängt. Der Hebammen IT-Campus (HeITCa) hat werdende Hebammen unterstützt, ihr Berufsbild dem digitalen Zeitalter anzupassen. Insbesondere sollten die Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten, die mit dem digitalen Wandel einhergehen, genutzt werden, um Hebammen eine flächendeckende, ressourcensparende und doch persönliche, individuelle bedarfs- und bedürfnisorientierte Betreuung von Frauen und ihren Familien zu ermöglichen.
Hebammenausbildung und Digitalisierung: Wie ist der aktuelle Sachstand, wo liegt derzeit der Bedarf und wo geht die Reise hin?
Thiele: Die Anwendung von digitalen Tools ist in der Ausbildung oder in dem neu konzipierten Studium nicht fest verortet. Dennoch benötigen Hebammen eine fundierte digitale Kompetenz. Durch die Pandemie und die veränderten Arbeitsmöglichkeiten ist ein sicherer Umgang mit digitalen Tools unumgänglich. Hier gehört die Arbeit mit der Frau und ihrer Familie ebenso dazu, wie der Umgang mit bürokratischen Vorgaben. Einige Hebammen haben bereits die Umstellung auf ein nahezu papierloses Büro vollzogen. Hier wird digital dokumentiert, die Verwaltung der Betreuten wird online erledigt und das Qualitätsmanagement wird ebenfalls nicht mehr als Papierhandbuch geführt. Dies beginnt bereits bei der Abrechnung der erbrachten Leistungen mit den gesetzlichen Krankenkassen. Die digitale Übermittlung der Leistungen ist hier bereits Voraussetzung, welche allerdings nicht in der Ausbildung unterrichtet wurde.
Dr. Rudolph: Seit diesem Jahr ist die Telematikinfrastruktur besonders wichtig für die Hebammen. In 2022 wird die Möglichkeit des digitalen Mutterpasses in der Schwangerschaft und auch des digitalen gelben Kinderuntersuchungsheftes in Deutschland eingeführt. Ohne die nötigen Informationen und die passende Ausstattung können die Hebammen an diesem Angebot nicht teilnehmen und werden von der Betreuung der Frau und des Kindes ausgeschlossen.
In Deutschland besteht ein Hebammenmangel. Insbesondere sind ländliche Gebiete betroffen, da hier generell weniger Hebammen tätig sind. Kann die Digitalisierung die Versorgung von Frauen und Familien verbessern?
Dr. Rudolph: Ja, in ländlichen Gebieten wäre ein weiterer Ausbau der Versorgung durch digitale Tools möglich. Nicht alle Frauen sind mobil. Manche Familien haben kein Auto zur freien Verfügung, um eine Hebammenpraxis aufzusuchen. Öffentliche Verkehrsmittel sind auf dem Land oftmals kein wirklicher Ersatz. Oft fahren Busse beispielsweise nur sehr unregelmäßig. Onlinekurse oder Videosprechstunden sind hier eine sehr gute Alternative, um trotzdem versorgt zu werden.
Thiele: Der Bedarf an Hebammen steigt mit der wachsenden Geburtenrate in der Bevölkerung weiter deutlich. Diese hohe Nachfrage kollidiert, insbesondere in ländlichen Regionen, mit der Verfügbarkeit von Hebammen. Digitale Angebote helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen, sodass sowohl Hebammen als auch betreute Frauen und Familien flexibel und unabhängig von vorgegebenen Zeiten z.B. Übungen und Inhalte wiederholen können – wovon beide Seiten profitieren.
Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen bedeutet derzeit eine große Herausforderung für viele ESF-Projekte. Hat sich die Corona-Pandemie auf die Umsetzung Ihres Projekts nachteilig ausgewirkt? Oder hatten Sie aufgrund Ihres geplanten digitalen Ansatzes einen Vorteil?
Dr. Rudolph: Da es sich um eine berufliche Ausbildung handelt, konnte der Unterricht auch in Lockdown-Zeiten fortgesetzt werden. Unter den Kontaktbeschränkungen haben jedoch die praktischen Anteile und begleitende Angebote gelitten und mussten zum Teil auf digitale Formate ausweichen. So gesehen hatte das Projekt eher positive Effekte auf die Corona-bedingt veränderte Ausbildungssituation der Hebammen. Es war deutlich schneller und einfacher möglich, in die digitale Lehre mit den verschiedenen Möglichkeiten zu wechseln und somit hohe Akzeptanz der digitalen Tools zu gewinnen.
Könnten Sie uns hierfür ein Beispiel nennen?
Thiele: Vor Corona war Hebammenarbeit im digitalen Kontext über die Krankenkassen nicht abrechenbar. Durch die Pandemie wurde hier eine Position zur Abrechnung geschaffen, was in der Ausbildung erstmal nicht vorgesehen war. Wir konnten darauf flexibel reagieren und die werdenden Hebammen hatten die Möglichkeit, in ihrer Ausbildung die digitalen Abläufe kennen zu lernen und durch eigene Anwendung in dem geschützten Rahmen des Kurses selbst auszuprobieren. Eine weitere wichtige Kompetenz für ihre zukünftige Tätigkeit!
Das Projekt wurde konzipiert und umgesetzt in einer engen Kooperation zwischen der Volkshochschule Hildesheim und dem St. Bernward Krankenhaus. Welchen Vorteil hat diese Kooperation für das Projekt?
Thiele: Jede Institution hat in das Vorhaben ihre besonderen Schwerpunkte einfließen lassen – die Volkhochschule ihre besondere Kompetenz im pädagogischen Umgang mit digitalen Inhalten und das St. Bernward Krankenhaus die eigentliche medizinische Ausbildung der Hebammen. Über das Projekt hinaus besteht zwischen beiden Institutionen bereits eine Kooperation im Rahmen der „Elternschule“. Hier bieten die Volkshochschule und das Krankenhaus unter einem Dach Angebote rund um die Themen Schwangerschaft, Geburt und Elternsein an. Beide Seiten profitieren hierbei von der jeweiligen Expertise.
Dr. Rudolph: Im praktischen Teil der Ausbildung konnten die werdenden Hebammen in einer weiteren Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle der „donum vitae“ Hildesheim-Hannover e.V. Einblicke in die Beratungspraxis werfen. Der Schwerpunkt wurde dabei auf digitale Beratung der Schwangeren in belastenden Situationen gelegt. Die teilnehmenden Schülerinnen konnten hautnah erleben, dass auch eine Beratung in nicht direktem Kontakt sehr gut möglich ist, was sich die meisten im Vorfeld so nicht vorstellen konnten. Hier waren alle überrascht, wie gut trotzdem eine Basis geschaffen werden konnte und die Frau sich gut beraten und aufgehoben gefühlt hat.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Fragen zum Projekt „Hebammen IT-Campus (HeITCa)“: Herr Dr. Alexey Ponomarev, E-Mail: ponomarev@vhs-hildesheim.de